E-Mail-Interview mit Christine Fischer im Januar 2007

Das ISCM World New Music Festival 2006, das im Juli letzten Jahres in Stuttgart stattfand, war, so wird aus berufenen Mündern kolportiert, sehr erfolgreich. Hinter diesem Erfolg steckt - wie so oft - eine Frau; sie hört auf den Namen Christine Fischer und hat als künstlerische Leiterin des Festivals einiges zu sagen - in jeglicher Hinsicht.


ragazzi: "Welche Erwartungen hatten Sie an das ISCM World New Music Festival? Inwieweit wurden diese Erwartungen erfüllt?"

Christine Fischer: "Die Erwartungen bezogen sich auf sehr unterschiedliche Bereiche. Zunächst gab es einen künstlerischen Anspruch, der sich weitgehend eingelöst hat. Die Interpreten waren hervorragend. Besonders glücklich bin ich über die Projekte, die im Zeichen des "interkulturellen Dialoges" standen, über die Reaktionen der Komponisten wie des Publikums darauf. Die Presseresonanz war überwältigend, auch die Berichterstattung in Funk und Fernsehen. Die ISCM, deren Vorgaben ja auch zu erfüllen waren, war mit dem Festival sehr zufrieden und hat insbesondere die Öffnung gegenüber anderen Musikkulturen begrüßt. Die Wahrnehmung des Festivals in der Öffentlichkeit war insgesamt sehr beglückend."

ragazzi: "Gehe ich recht in der Annahme, dass dieses Festival unter der Ägide der Gesellschaft für Neue Musik Deutschland (ent)stand und gehören Sie selbst auch dieser Gesellschaft an?"

Ch. F.: "Musik der Jahrhunderte ist Mitglied der GNM und hat das Festival in ihrem Auftrag ausgerichtet."

ragazzi: "Wie viele Veranstaltungen fanden während des Festivals an wie vielen Aufführungsorten statt?"

Ch. F.: "Es waren ca. 80 Veranstaltungen an 9 verschiedenen Orten. Hauptspielort war das Theaterhaus, einige Veranstaltungen fanden im Kunstmuseum, andere im Forum Neues Musiktheater statt. Der Killesbergpark war Open Air-Schauplatz für Klanginstallationen."

ragazzi: "Ohne Sponsoren ist eine Veranstaltung dieser Größenordnung heute kaum mehr durchführbar; war es leicht Sponsoren zu gewinnen und wollten diese Sponsoren in irgendeiner Weise Einfluss auf das Festival nehmen?"

Ch. F.: "Es ist immer schwer, Sponsoren für Kultur - insbesondere für neue Musik - zu gewinnen. Aber die Einmaligkeit und Internationalität des Ereignisses machte es einfacher, ins Gespräch zukommen. Die Sponsoren haben nicht Einfluss genommen, für viele war allerdings ausschlaggebend, dass unser inhaltlicher Fokus (z.B. interkultureller Dialog, z.B. Bildung und Vermittlung) mit ihren Förderrichtlinien übereinstimmte."

ragazzi: "Welche logistischen Herausforderungen galt es im Rahmen der Veranstaltungsreihe zu bewältigen?"

Ch. F.: "Das kann man nicht in Kürze zusammenfassen. Über 80 Veranstaltungen, zahlreiche Partner und Mitveranstalter, einige hundert internationale Gäste, Parallel-Proben und -Aufführungen, Künstler, die an mehreren Produktionen beteiligt waren, verschiedene Aufführungsorte, mehrere Kongresse während des Festivals, Ansprüche der Trägerin ISCM bzw. der Zwang, Musik aus den 50 Mitgliedsländern zu spielen (und vorher zu finden!), Ansprüche der Mitveranstalter, der Sponsoren, der öffentlichen Geldgeber - alles dies war zu bedenken. Die größte Herausforderung war, dies alles mit einem denkbar kleinen Team und geringsten finanziellen Mitteln zu stemmen. Das Festival war entsetzlich unterfinanziert."

ragazzi: "Wie viele Besucher interessierten sich insgesamt für das Festival? Ist die Besucherzahl für Sie ein Erfolg?"

Ch. F.: "Über 14.000 Zuschauer sind schon als Erfolg zu werten. Dennoch war ich bei manchen Veranstaltungen enttäuscht, dass wir nicht mehr Publikum generieren konnten. Das Stuttgarter Kammerorchester zum Beispiel hatte zwei herausragende Projekte, aber über unser "normales" Festivalpublikum hinaus konnten wir nicht das Stammpublikum des Kammerorchesters erreichen. Die Hürde "zeitgenössische Musik" scheint für manche Menschen unüberwindbar."

ragazzi: "Welche Länder und welche musikalischen Bereiche (sinfonisch - kammermusikalisch - solistisch) waren besonders stark vertreten?"

Ch. F.: "Es waren 60 Länder im Festival vertreten. Deutschland war durch unsere Kooperationspartner (zum Beispiel die Veranstaltungen der DEGEM = Deutsche Gesellschaft für elektronische Musik) überproportional vertreten, aber bei unseren eigenen Veranstaltungen habe ich auf ein Gleichgewicht geachtet. Neu bei einer ISCM Veranstaltung war die Fokussierung auf andere Kulturen wie die arabische, chinesische oder indische Musik.
Der Hauptschwerpunkt lag auf Ensemble- und Kammermusik, es gab aber auch vier Orchesterkonzerte, zwei Chor-Auftritte und Solokonzerte. Ein Schwerpunkt lag auf dem Musiktheater: Es gab 6 verschiedene Produktionen."

ragazzi: "Das Festival trägt den Titel "grenzenlos"; nach Ihrer Aussage im entsprechenden Grußwort des Programmheftes steht die Frage nach der Identität in dessen Mittelpunkt. Können Sie diesen Ansatz etwas näher erläutern?"

Ch. F.: "Ich zitiere aus der Festivalkonzeption:
Im Mittelpunkt von "grenzenlos" steht die Frage nach der kulturellen Identität: Wie reagiert eine junge Künstlergeneration weltweit auf die Herausforderungen von Interkulturalität, von grenzenloser Kommunikation und Internet, von neuen Technologien? Wie wirken sich die Veränderungen durch die Globalisierung auf den einzelnen Künstler aus? Welche Aufgabe kann die Kunst im Sinne der Identitätsfindung übernehmen? Kann sie dazu beitragen, Verständigungsebenen zwischen Gesellschaften und Kulturen herzustellen?"

ragazzi: "Impliziert der Begriff "grenzenlos" im künstlerischen Kontext die Sehnsucht nach dem Gesamtkunstwerk im Sinne Wagners?"

Ch. F.: "Nein, gar nicht. Wieder der Hinweis auf die Konzeption:
Das Thema "Grenzenlos" evoziert die Fragen, aber auch die Chancen, mit denen junge Künstler in der globalisierten Welt auf allen Kontinenten und in allen Kulturen konfrontiert sind. Unterschiedliche ästhetische Positionen werden im Festival aufeinanderprallen und neue künstlerische Konzepte provozieren. Als internationales "Event" auf höchstem Niveau soll das Festival die Bedeutung unterstreichen, die künstlerische Reflexion für die Zukunft unserer Gesellschaft hat. Damit wird auch die Aufgabe formuliert, die der Kunst und den Kunstschaffenden in dieser Zeit von Globalisierung und Gesellschaftswandel zufällt.
"grenzenlos" wird in verschiedener Hinsicht gedacht. Grenzenlos ist die Neugierde auf Fremdes und Unbekanntes in anderen Kulturen. Es sind Musikkulturen einbezogen, für deren umfassendes Verständnis in Europa die Kriterien (noch) fehlen. Auch intermediale und interdisziplinäre Aspekte sind Bestandteil des Festivals. Generell bezieht sich der Titel auf ein Denken, das, provoziert durch ästhetische, technische oder kulturelle Festlegungen, künstlerische Sprengkraft entwickeln kann."

ragazzi: "Inwiefern sind Sie der Ansicht, dass Musik als Kommunikationsform, die keiner Worte bedarf, der Völkerverständigung dient und wie nahe sind Sie Ihres Erachtens durch die einzelnen Veranstaltungen diesem Ziel gekommen?"

Ch. F.: "Das ist ein plakativer Wunsch, der so direkt nicht aufgeht. Die Beschäftigung mit Musik und mit Kunst überhaupt sensibilisiert und öffnet. Eine grundsätzliche Neugierde gegenüber Fremdem und Neuem, die eine Voraussetzung für die Rezeption neuer Kunst ist, ist auch eine Grundlage für die Verständigung zwischen fremden Kulturen. Insofern bin ich fest davon überzeugt, dass man mit Kultur Grenzen überwinden kann, wo politische Argumente nicht mehr greifen. Aber Musik ist keine universelle Sprache, es gibt unendlich viele unterschiedliche musikalische Sprachen, Ebenen, die sich nicht berühren. Es geht nicht darum, EINE Sprache zu entwickeln, sondern darum, die Vielsprachigkeit zu akzeptieren, vielleicht zu genießen, sich immer mehr Sprachen anzueignen. Diese Unterschiedlichkeit haben wir im Festival sicherlich aufgezeigt."

ragazzi: "Im Verlauf des Festivals fanden diverse sehr experimentelle Veranstaltungen statt; wurde bereits im Vorfeld eine Art von "Qualitätssicherung" betrieben oder hatten die Künstler völlig freie Hand, herrschte also gewissermaßen "musikalische Anarchie"? (Falls ersteres zutreffen sollte: Nach welchen Qualitätsstandards gingen Sie dabei vor und auf welcher begrifflichen Repräsentanz für "Qualität" basieren solche Standards?)"

Ch. F.: "Es gibt keine "Qualitäts-Standards". Die Frage der Qualität ist immer nur individuell zu beantworten. Meine Qualitätsansprüche generieren sich aus meiner persönlichen Erfahrung und Kenntnis und ästhetischen Positionierung - und ebenso gibt es die Positionierung der beteiligten Künstler. Ich habe mit allen beteiligten Künstlern intensiv über ihre Beiträge gesprochen und mit ihnen gemeinsame Entscheidungen getroffen. Das Festival hatte ein klares Konzept und ich hatte eine klare inhaltliche Vorstellung. Natürlich gab es keine "Anarchie"."

ragazzi: "Leidet mancher Komponist Neuer Musik unter der Erwartungshaltung der Kritiker (und des Publikums) nach permanenter Innovation?"

Ch. F.: "Vermutlich schon. Die meisten Künstler verstehen es glücklicherweise, sich vor diesen öffentlichen Ansprüchen abzuschotten. Ich denke, sie müssen sich abschotten, um ihre eigene, persönliche, individuelle Sprache zu finden. Ob diese "neu" ist oder nicht, wird die wenigsten kümmern."

ragazzi: "Nachdem sämtliche musikalischen Möglichkeiten der Klanggestaltung ausgeschöpft scheinen, trägt die Neue Musik nicht längst ihren Namen zu Unrecht, d.h. gibt es nach Ihrem Ermessen ein "Verfallsdatum" für den Begriff "neu"?"

Ch. F.: "Es ist nie alles ausgeschöpft. Es wird immer künstlerische Inspiration geben. Ich bin sehr neugierig, was die Zukunft bringt und habe keinen Zweifel daran, dass es wieder "neu" für uns sein wird."

ragazzi: "Stellt beim Streben nach musikalischer Progression der Begriff "kakophon" nach Ihrer Ansicht eine musikalische Wertkategorie dar bzw. inwieweit gilt der Hang zu Harmonie und Melodie als anachronistisch?"

Ch. F.: "Ich würde diese Begriffe nicht auf eine Ebene stellen. Ich glaube, den Komponisten geht es um etwas anderes als um ihre eigene Positionsbestimmung gegenüber den Begriffen "Harmonie" und "Melodie". Das sind musikalische Parameter, die auf völlig unterschiedliche Weise eine Rolle spielen. Daher kann man nicht von Anachronismus reden."

ragazzi: "Wie stark geben Kritiker im Bereich der Neuen Musik den Ton an bzw. wird bisweilen versucht sich durch ein (pseudo-)elitäres Bewusstsein von der Masse der "Ignoranten" abzugrenzen und einem Pantheon der Kopfgeburten den Weg zu ebnen? Gibt es Ihres Ermessens einen "Volonte´ generale" innerhalb der Kunst?"

Ch. F.: "Nein, das gibt es nicht, ebenso wenig wie dominante Kritiker-Haltungen. Es gibt viele individuelle Veranstalter (z.B. Festivals, Ensembles, Rundfunkanstalten), die mit ihren persönlichen Vorlieben das Musikleben ebenso reichhaltig gestalten wie die Künstler selbst, deren Werke die Grundlage der Programme sind. Und es gibt viele individuelle unterschiedliche Kritiker-Meinungen."

ragazzi: "Wurden eigens für dieses Festival Kompositionen in Auftrag gegeben?"

Ch. F.: "Ja, aber nur sehr wenige: An Julio Estrada, Dror Feiler, Jennifer Walshe, Sandeep Bhagwati und Amr Okba."

ragazzi: "Eine Verwischung musikalischer Grenzen führt meines Erachtens zwar möglicherweise zu einer Erweiterung des Klang- respektive Hörbegriffs, stellt aber gleichzeitig die eigene (musikalische) Verortung in Frage. Ist eine solche Verunsicherung Teil Ihres programmatischen Ansatzes?"

Ch. F.: "Nein. Siehe oben meine Ausführungen zu "grenzenlos". Es geht nicht um "verwischen", es geht um die Unterschiedlichkeit."

ragazzi: "Ist ein solches Festival prinzipiell auch einem hoffnungslosen Neo-Romantiker zu empfehlen, d.h. wird auch "musikalische Schonkost" serviert?"

Ch. F.: "Schonkost? Was ist das? Ich empfahl das Festivalprogramm allen neugierigen Menschen."

ragazzi: "Wie war es innerhalb des Festivals um den heilenden bzw. heiligenden Aspekt von Musik bestellt?"

Ch. F.: "Das ist für mich kein Thema."

ragazzi: "Gustav Allan Pettersson stellte dereinst ernüchternd fest: "Der größere Teil der Menschheit schert sich nicht um Musik und kann auch durch Erziehung nicht dazu gebracht werden." Wie versuchen Sie speziell einem jungen Publikum die Neue Musik zu vermitteln?"

Ch. F.: "Wir haben ein ausführliches Vermittlungsprogramm neuer Musik CLASH, das sich an Kinder und Jugendliche aller Alters- und Bildungsstufen richtet. Im Festival gab es den Jugendkongress N[you], der insgesamt über 600 Kinder und Jugendliche erreicht hat."

ragazzi: "Was verbirgt sich hinter dem Kompositionsworkshop "Global Interplay"?"

Ch. F.: "Zitat aus der Festivalkonzeption:
Global Interplay richtet sich an angehende Komponisten zwischen ca. 20 und 30 Jahren aus fünf Kulturen mit den völlig unterschiedlichen Musiktraditionen der europäischen, amerikanischen, westafrikanischen, arabischen und chinesischen Welt. Das Ziel von GLOBAL INTERPLAY ist, Künstler zu einer bewussten Position innerhalb ihrer Kultur und ihrer Gesellschaft herauszufordern. Zudem soll ein lebendiger Diskurs über das zeitgenössische Kunstschaffen und über Komposition angeregt und dieser Diskurs zwischen verschiedenen Kulturen in der Welt eröffnet werden.
Der Kompositions-Workshop fand zwischen Juni 2005 und Juli 2006 zeitgleich in Accra (Ghana), Berlin, Kairo, New York und Peking/Shanghai statt. Die Teilnehmer erhielten Kompositionsunterricht, lernten ihre eigenen kulturellen Wurzeln und die Kultur der Partner-Teams kennen und arbeiteten mit den verschiedenen medialen Möglichkeiten zeitgenössischer Komposition. Gleichzeitig gingen sie einen Diskurs ein mit den Kollegen der anderen Teams. Dabei standen neben spezifischen kompositions-technischen Themen auch Fragen zu Interkulturalität und kultureller Identität im Zentrum.
Höhepunkte dieser Diskurse waren vier Konferenzen in Accra, Kairo, Berlin und New York jeweils mit Delegierten aus allen Teams, die einen persönlichen Kontakt der jungen Komponisten untereinander ermöglichten. Am Ende des interkulturellen "Spiels" stand ein Kompositionswettbewerb, dessen Gewinner-Projekte - insgesamt 12 Werke - beim World New Music Festival im Juli 2006 in Stuttgart uraufgeführt wurden."

ragazzi: "Wird es auch künftig, z.B. im Rahmen des Festivals "Eclat" Veranstaltungen in der Art des New Music Festivals in Stuttgart geben? Sehr spannend erscheint mir eine musikalische Begegnug eines "westlichen" und eines "östlichen" (z.B. Gamelan-)Orchesters."

Ch. F.: "Musikalische Begegnungen von Musikern aus unterschiedlichen Musiktraditionen gibt es in der europäischen Festivallandschaft immer mehr und sicher werden entsprechende Projekte auch wieder in Stuttgart und unter dem Dach von Musik der Jahrhunderte stattfinden. Das Projekt Global Interplay wird dadurch, dass die jungen Komponisten den Kontakt untereinander aufrecht halten, sowieso seine Fortsetzung finden."

ragazzi: "Was wird das nächste Projekt sein, mit dem Sie sich beschäftigen?"

Ch. F.: "Unser Festival ECLAT findet jährlich im Februar statt, die Neuen Vocalsolisten, die ich manage, haben bis zu 35 Konzertreisen pro Jahr und sind in jedem Jahr in Musiktheaterprojekte eingebunden, die uns auch als Koproduzenten beschäftigen. Die "ganz normale" überbordende Arbeit geht also weiter."

Frank Bender



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