Egg "Egg" "The Polite Force" (Eclectic Discs 2004)

"While growing my hair" sind die ersten Worte, die Bassist Mont Campbell auf dem Debüt der Canterbury-Legende Egg singt. 1970 auf Deram Nova (Decca's gerade etabliertem Progressive Label) erschienen, schlug das Album bei den Kritikern wie eine Bombe ein, aber es verkaufte sich nicht besonders.
Egg ging aus Uriel hervor, nachdem Gitarrist Steve Hillage seine Bandkollegen Dave Stewart (p, mel, org), Mont Campbell (b, voc) und Clive Brooks (dr) wegen seines anstehenden Geschichts- und Philosophie-Studiums verlassen hatte. Uriel hatte seit Beginn 1968 einige lokale Konzerte gegeben. Inspiriert vor allem von The Nice, Jimi Hendrix, Cream, Pink Floyd und Fleetwood Mac eröffnete Egg für Fairport Convention und The Crazy World of Arthur Brown.
1969 war ein gutes Jahr für die Band, die für bekannte Acts wie Soft Machine oder Family eröffnete. Egg schmissen die Coversongs aus dem Repertoire und schrieben eigenes Material, das viel komplexer als alles war, was sie vorher gespielt hatten. Im August 69 erschien ihre (einzige) Single.
Nova machten der Band das Angebot, eine LP zu veröffentlichen. Die Band ging jedoch vorher noch einmal mit Steve Hillage ins Studio und spielte unter dem Namen Arzachel wilde 60s Psychedelic Songs ein. Und damit es zu keiner Verwechslung mit dem kommenden Nova-Material unter dem Namen Egg kommen sollte, gaben die Musiker sich gar Phantasienamen.
Steve Hillage fing an die Uni zurück und Egg nahmen ihr grandioses Debüt auf. Die Einflüsse des frühen Progressive-Meisterwerkes sind klar auszumachen: neben ihrem starken Faible für The Nice sind das Jazz, Blues, Psychedelic Rock und vor allem Klassik, was unschwer in Adaptionen und in "Verwendung" Materials von J. S. Bach, Edward Grieg und Igor Stravinsky zu hören ist. Zudem manipulierte Dave Stewart an seinem Mellotron herum, dem er allerlei fremdartige Töne (neben den bekannten Klängen) entlockte.
Es gibt keine stilistischen Grenzen auf "Egg". So kann ein hartes Rockstück in Blues münden oder astreinen Jazzrock fabrizieren. Die gerade einmal 20 Jahre alten Musiker waren technisch sehr gut gerüstet und zeigten hier bereits ihr voll entwickeltes musikalisches Können. Die 2. LP-Seite war mit der "Symphony No. 2" voll, deren 3. Part von Decca zurückgehalten (und nicht mit veröffentlicht) wurde. Auf CD ist die stark klassisch inspirierte Symphonie in voller Länge von über 24 Minuten zu hören. Zusätzlich gibt es die beiden Tracks der Single als Bonus dazu.
Nur ein Jahr später zeigten Egg sich auf ihrem 2. Album kompositorisch stark gewachsen. Auch stilistisch hatte die Band sehr gewonnen und klang nicht mehr so sehr an die Vorbilder angelehnt. Der Canterbury-Sound, der noch zum Begriff werden sollte, fand in der Band einen seiner Ursprünge. Jazz, Klassik und Rock verschmelzen auf "The Polite Force" zu einer wahnwitzig spannenden Musik.
Im ersten Song "A Visit To Newport Hospital" singt Campbell die Story der Band, der typisch britische Humor in den Texten war auch schon auf dem ersten Album vielfach zu hören gewesen. Jazzige Akkorde schaffen eine grandiose Atmosphäre, die in ihrer Lyrik und Qualität ihresgleichen sucht. Ein virtuoses, facettenreiches Meisterstück, das trotz aller Komplexität heavy rockt. Daran schließt sich der jazzige Blues "Contrasong" an, noch so ein fabelhaftes Teil, dessen rotzige Bläsersätze ausgezeichnet zum Trio passen.
Das folgende Stück heißt "Boilk", was bandintern soviel wie Fehler bedeutete. 9 ½ Minuten läuft diese abgedrehte Avantgarde, deren Hauptmotiv von J.S. Bach stammt. Es scheint, als vergewaltige Dave Stewart sein Mellotron gar fürchterlich, was sich auch im Untertitel zeigt, den Egg schlicht mit: "ganz verderbt" bezeichneten.
Der zweiten LP-Seite war ein weiteres langes Werk vorbehalten. "Long Piece No. 3", über 20 Minuten lang, hat vier Parts, die sich genial ergänzen und vielfach variieren.
Mit diesem Album supporteten Egg Bands wie YES, IF, Gentle Giant, The Groundhogs oder Lindisfarne. Dave Stewart begann, neues Material für ein drittes Album zu schreiben, zu dem es erst einmal nicht kam. Einige dieser Stücke wurden im Februar 1972 in der Radio One Show aufgezeichnet, ein paar Tage später spielte die Band einen weiteren Song ein.
Dave Stewart spielte im Anschluss als Gast in der neuen Band seines ehemaligen Mitstreiters Steve Hillage, Khan, mit und im Juli 1972 traten Egg das letzte Mal live im Londoner Roundhouse auf. Clive Brooks folgte der Einladung der Groundhogs, Mont Campbell stieg für eine Weile aus der Musikszene aus.
Ein Jahr später hatte Dave Stewart das Line-Up seiner neuen Band, Hatfield and the North, auf die Beine gestellt. Zwischen den Aufnahmen beider LPs der Band, "Hatfield and the North" und "The Rotters Club", kamen Dave Stewart, Mont Campbell und Clive Brooks mit Gast Steve Hillage in einem Song, noch einmal zusammen, um die Songs für das dritte Album neu einzuspielen. Campbell und Stewart trafen sich später in National Health wieder.
Die beiden ersten LPs waren zu Beginn der 1990er Jahre schon einmal auf CD veröffentlicht worden, sind mit diesen neuen CDs aber nicht zu vergleichen. Die jetzigen remasterten Eclectic-Auflagen beider Progressive Rock Klassiker mit Bonussongs und ausführlicher Bandgeschichte in den Booklets sind uneingeschränkt zu empfehlen.

eclecticdiscs.com
VM



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