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Day & Taxi "Artists" (Percaso Production 2015)
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Der moderne Mensch ist ständig in Bewegung. Arbeitsplatz, Meeting, Taxi, Meeting, Taxi, Flughafen, andere Seite der Welt, Taxi, Meeting, Taxi, Flughafen, diese Seite der Welt, Taxi, Arbeitsplatz.
Wenn er abends nach Hause kommt, hat er nicht nur die Welt bereist, ohne etwas zu sehen, was das Reisen lohnt Er hat ‚wichtige' Dinge getan und Taxifahrern das Auskommen verbessert. Da ist nur noch Zeit, Sport zu treiben, Vitamine zu trinken und für den späteren Abend den Weinkeller zu besuchen.
Sodann der Raum. Sitzgelegenheit. Musikanlage. So kann der Tag Revue passieren. Day & Taxi.
Saxophonist Christoph Gallio (Alt, Bariton, C-Melodie), Silvan Jeger (Kontrabass) und David (Schnellertoller) Meier (Schlagzeug) liefern auf zwei CDs den Soundtrack des modernen Menschen. In je 15 Tracks, die zusammen 86 Minuten erhellen, kann das kompositorische Gespür des Saxophonisten Christoph Gallio (beneidenswertes Haupthaar!) ausführlich nachvollzogen werden, der für sämtliche Stücke einsteht.
Darunter sind Skizzen, Spritzer gewissermaßen, die in manchem Fall keine halbe Minuten lang sind. Eine große Anzahl der Aufnahmen beläuft sich zwischen einer und zwei Minuten Zeitbenutzung. Der moderne Mensch. Die ausführlicheren Tracks sind um vier bis fast sieben Minuten andauernd.
So kreativ die Namen der einzelnen Tracks (etwa: An meinen nassen Schuhspitzen, Lisa in Pisa, One More for Emil, Hügel oder Vero Vera?), so vielfältige Widmungen sind ausgesprochen und in Klammern den Songtiteln angehängt. Christoph Gallio beschenkt seine Freunde mit Musik.
Stilistisch findet das, was das Trio spielt, im Post Modern Jazz statt. Die formalen Qualitäten der im ersten Teil der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts ausgearbeiteten Jazz-Strukturen gehören hier überwiegend der Vergangenheit an. Wenn einzelne ästhetische Modelle auch überlebt haben, so ist doch vor allem das, was der Klang der Instrumente an sich ist, als Jazz erkennbar.
Wenn alle Stücke auch ‚komponiert' sind (das sind Sandburgen am Strand in manchem Fall auch), so ist doch gut zu erkennen, wie in der Spieldynamik des Trios das daraus wurde, was jetzt hier zu hören. Das Trio ging nicht unvorbereitet ins Studio, sondern arbeitete die Tracks in jeder einzelnen Facette aus. Und es ist nicht nur Christoph Gallios Arbeit, der Begleitwerkzeuge einludt, seine Arbeit einzuspielen, sondern die gemeinsame Arbeit aller drei Musiker, die den Songs ihre Kraft, Lebhaftigkeit und Energie geben. Gewiss steht Christoph Gallio im melodischen Zentrum der Kompositionen, weil sein Instrument diesen führenden, tragenden Sound hat, doch sind Bass und Schlagzeug nicht ledigliche Unterstützung und rhythmische Begleitung, sondern gleichermaßen melodisch tragende und die Struktur der Songs prägende Instrumente, deren Anteil kraftvoll und bestimmend ist. Erst alle drei zusammen machen die Songs.
Und das Trio liefert gute Arbeit ab.
Äußerst interessant, wie zusammen, unisono, die hohen Stufen genommen werden, das melodische Gebirge eingenommen und bewältigt wird. Es geht bergauf und bergab, und die Musiker springen mit einer Leichtigkeit von Stein zu Stein, das gut und schnell zu bemerken ist, wie sie ihre Instrumente beherrschen und darüber hinaus freie Musik denken und gemeinsam aus Komposition spezielle und eigenwillige Songs machen.
Bassmann Silvan Jeger ist vielleicht derjenige im Trio, der die stärkste Erdung trägt. Der volle, schwere Klang des Basses füllt das Off, gibt den Songs Raum und Klang, hält sich überwiegend zurück, weiß indes wie seine Mitstreiter, solistische Attacken zu fahren und verblüffende, komplexe Melodien lebhaft und irre schnell zu zelebrieren.
David Meier baut die abstraktesten Anteile solistisch aus. Gleichermaßen Rhythmusbasis und Vertrauen schaffend ackert er im Freien, gibt dem Saxophon kontra und macht mit seiner Vielzahl am momentanen Ideen den Klangraum interessant. David Meier kann leise und sanft ebenso wie forciert und dramatisch, schnell und abstrakt wie flüssig und episch. Vor allem ist sein Spiel kraftvoll, akzentuiert und versiert, ohne sich zurückzunehmen, wenn Voranpreschen oder Stolpersteinüberwinden angesagt ist. Fabelhaft!
Christoph Gallio hat wohl kein Interesse, Skalen hoch- und runterzurasen. Aber er weiß solches einzusetzen. Leise, leichte Motive zu fahren, kratzig harsch, laut und schnell und vor allem melodisch abstrakt zu arbeiten. Sein Spiel nimmt die Songs an die Hand und führt sie in die Minuten. Die Fülle an Ideen ist zahllos, sein Spiel bemerkenswert und trotz aller melodisch freien Sprache stets dem Instrument gewidmet. Nie überschreit das Saxophon, selbst in harsch lauten Motiven nicht. Manchmal scheint es gar, als baue Christoph Gallio besonders forsche, dynamische Ideen feiner und lyrischer aus, als dies andere (Free) Jazzer tun würden. Sehr intuitiv und hochmelodisch die kleinsten kurzen bis großen radikalen Tracks.
Am besten gefällt mir der schwere Klang des Baritonsaxophons, aber selbst das leichte Sopran- oder das nonchalant nasale Altsaxophon sind klangschön und neugierige Ohren fesselnd gespielt.
So ungewöhnlich das moderne Leben sein kann, so abstrakt ist sein Soundtrack.
Und wie sagt einer der Agenten in "Men in Black II" zum Hund-Agenten und Agent K, als sie über der Leiche eines Außerirdischen kichern mit plötzlichem Schrecken und radikalen Mimikwechsel: "Ich fand's lustig".
So nüchtern klar und abstrakt "Day & Taxi" auf ihrem 2CD Werk "Artists" (die Widmungen!) zu klingen scheinen, ständig muss ich über diese und jene Idee schmunzeln.
Neudeutsch: gute Arbeit!
gallio.ch
percaso.ch
VM
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