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Dawn "Darker" (The Laser's Edge 2014)


Passiert mir nur selten, dass ich über mehrfaches Hören hinweg keinen Zugang zu einem neuen Album finde (wenn es mir stilistisch liegt). Doch "Darker" ist ein harter Brocken. Zuerst einmal ist da dieses kurze "Yesterday's Sorrow" zu Beginn. Es geht nicht knackfrisch los, sondern leise nimmt das dunkel-symphonische Instrumental seinen Anlauf. Ungeduld.
"Cold" mit 9:41 Minuten der erste von 5 (4) Longtracks, setzt mit ebenso eigenen charakteristischen Merkmalen an: der nicht nur handwerklich großartige Keyboarder ist eindeutig aus der Hochphase des 1970er Progressive Symphonic Rock inspiriert, wohingegen der Gitarrist hier mit seinem Schreddern minimalistischen Alternative Rock bevorzugt. Der Kontrast will gemocht sein!
Zudem setzt Sänger (und Gitarrist) René Degoumois mit hoher Kopfstimme an - ich will den Vergleich zu DEM Hochsinger der Siebziger jetzt nicht heraufbeschwören, der passt nicht.
Die Band traut sich etwas. Sie reizt den Hörer, der sich gedulden muss, bis es losgeht und die unscheinbare symphonische Note zu Beginn Fahrt aufnimmt. Und dann schreddert der Gitarrist ganz unsymphonisch, setzt dabei einen starken Kontrapunkt zum 70s Keyboardarrangement, welches Mellotron tonnendick präsentiert ("vintage keyboard sounds"). Auf dem Beiblatt lese ich "British Canterbury prog" - die Stimme des Sängers soll dort verankert sein. No way.
Später singt der Mann mit 'normaler' Stimme - und das macht er sehr gut. Wenn die Gesangslinien überwiegend auch eher 'normal' sind - nicht wie Wahnsinn hinreißend oder fesselnd.
Und trotzdem sind die knapp 10 Minuten eine angenehm kurzweilige Angelegenheit. Zum einen machen das die vintage keyboard sounds, zum anderen der kompositorische Hang zu 70er Arrangements, die Symphonic Prog und Hardrock verbinden. Wenn der Gitarrist auch 70er Gras geraucht hätte, wäre das Ergebnis nicht so - 'alternative'. Aber es ist, wie es ist. Und der Mann an den 6 Saiten, immerhin mit dem Keyboarder der Hauptkomponist der Songs, setzt Akzente krass gegen Old School Symphonic.
Die Rhythmusabteilung macht ihre Sache sehr gut. Bassist Julien Vuataz ist der Bodyguard mit den geerdeten Saiten, an dem keiner vorbeikommt. Überwiegend unscheinbar, aber wichtig, hin und wieder markant den Song prägend. Und stets auf Draht mit sattem Einsatz. Manu Linder ist eine Ohrenfreude. Sein virtuoses Getrommel bringt Power in die Bude, gibt den lauten, starken Motiven wie den nachdenklich melancholischen erstklassige Unterstützung. Gute Beckenarbeit, inspirierte Zurückhaltung, lässiges bis dynamisches Spiel - großartig!
Manche Songidee ist an sich eher Melodic Rock als Symphonic Prog. Sehr eingängig, hochmelodisch, sanft und lyrisch, vor allem in Gesangspassagen. Sobald instrumentale Weite als Spielwiese angesagt ist - und das passiert ständig, angenehmer Weise - wird es hochsymphonisch. Dann kann es gar sein, dass das Schreddern der Gitarre zum melodischen Spiel wechselt, was den Old School Charakter stärkt.
Die Schweizer Band, Dawn wohnen in Jazztown Montreux, haben einen skandinavischen Hang zu dunklen Klängen. Das steckt nicht nur in den langen Epen, sondern gleichfalls im 4:31 Minuten langen Instrumental "Lullabies for Gutterflies", meiner Meinung nach der beste Track des Albums. Eindrucksvolle Keyboardarbeit, sehr gut von Bass und Schlagzeug unterhoben. Nicht erst hier wird deutlich, dass der Einsatz Nicolas Gerber am Keyboard weitaus stärkere Akzente setzt als René De Goumois Gitarrenspiel. Letzteres gewinnt im Laufe des Albums, da sind interessante Soli zu hören.
Mit 19:02 Minuten ist "8945" die längste Strecke auf "Darker". Der Song macht dem Albumnamen alle Ehre. Es geht sehr düster und lyrisch zu. Selbst in krassen und starken, lauten Momenten wechselt die Band nicht zum Heavy Metal, was das Songmotiv anbietet, sondern setzt auf sehr schwere, vollmundige symphonische Arrangements. Sehr gut!
Die raffiniert guten Chorgesänge erinnern mich an Gesangsmotive aus Hamadryads erstem Album, ohne zu kopieren. Dies ist ganz und gar eigenständige Arbeit. Der Gitarrist macht seine Sache sehr gut. So ist der Song rund und satt und mit dem kürzeren Instrumental davor die Krönung des Albums.
Hin und wieder habe ich den Eindruck, 1982er 'Time to turn' - Eloy seien mit britischem Symphonic Gedankengut aus dem Jahr 1973 in düsteren, aktuellen Skandinavien-Wäldern unterwegs, aus Versehen sprechen sie kurz über Melodic Rock und die Idee der Minimal Music, was nur als Spur in die Arbeit wachsen soll, und sprechen auf einer Lichtung alles ab, was an kreativer Idee und inspirativer Vorfreude eingesammelt ist, gehen ins Studio, die frische Energie mit ganzem Einsatz zu meistern. Die Texte sind kein schmückendes Beiwerk, sondern prägend kritische Ansage.
Inhaltlich geht es um den Menschen im 21. Jahrhundert, seine Ängste, Lebenskonzepte, seine Reaktion auf alle Lebensumstände prägende Technologien, Atomkraft, Umweltverschmutzung, Ausbeutung und Zukunft des Planeten.
"8945" ist wohl als Zeitenwende betitelt - ohne dieses Thema selbst zu vertiefen. 1989/1945, zwei prägende Jahre. 1989 das Wiederzusammenwachsen der Welt. 1945 die Befreiung von Nationalsozialismus mit gleichzeitiger Trennung Europas durch den unter stalinistischer Diktatur stehenden Osten des Erdteils unter Führung Russlands (Sowjetunion). Beide Jahre haben viel Gutes gebracht - 1945 das Ende des Hitler-Regimes, dessen geistiges Erbe leider noch heute in vielen Köpfen herrscht; 1989 die Befreiung vom stalinistischen Joch, gleichzeitig das Aufkommen kommunikativer Technologien und die immer weitere Öffnung der Einkommensschere mit zu vielen armen Menschen in ganz Europa wie der ganzen Welt.
Die poetischen Texte der Band sagen viel mehr. Booklet!
So schwer es mir der Anfang des Albums macht, so sehr sagt mir der 'restliche' Part zu. Meine Gewöhnung an den Gesang dauert an, doch im Laufe des Albums und der Songs singt René des Öfteren in normaler Stimmlage, was angenehm zu hören ist. Und selbst die Gesangslinien passen ins Arrangement (dieser "Time to turn" - Gedanke kommt mir immer wieder einmal in den Sinn).
Progressive Rock ist Meister darin, zuerst vor den Kopf zu stoßen, unverstanden zu sein. Um dann um so hingebungsvoller geliebt zu werden. Den großen Preis sammelt Nicolas Gerber ein, der es einfach versteht, sein Tastenensemble grandios zu Leben zu erwecken und mit überzeugend raffinierten Ideen lange Songs zu füllen. Exzellente Rhythmusarbeit steht ihm zur Seite. Und sein Kopilot an den 6 Saiten weiß, wenn er auch nicht zu den Königen der Gitarrenarbeit gehört, sich durchzusetzen.
Schönes, schwieriges, kniffliges, hochsymphonisches Werk!

dawnprog.com
lasersedgegroup.com
VM



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