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Merzbow / Pándi / Gustafsson / Moore "Cuts Of Guilt / Cuts Deeper" (RareNoise Records 07.04.2015)
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Grundsätzlich gehe ich davon aus, dass alle Menschen - alle hörenden Menschen - die gleichen Voraussetzungen haben, äußere hörbare Reize genauso wahrzunehmen, wie jeder andere auch. Das Geräusch eines Hubschraubers hört sich für alle gleich an, ebenso das Öffnen der Bierflasche oder Sturm in Baumwipfeln. Jedes Geräusch hat seinen speziellen Klang und zahllose Geräusche sind einem jeden Menschen wohlbekannt.
Jeder Mensch verarbeitet äußere Reize anders, so hat sich etwa die Vielfalt in der Musik ausgebildet. Der eine ausgeglichene Mensch liebt es, Kinderlieder pfeifend Fahrrad zu fahren, während der andere ausgeglichene Mensch Black Metal in extremer Lautstärke hört, um anschließend seine Umwelt wieder ertragen zu können. Andere brauchen dazu alte Musik von Händel oder Bach.
Es gibt Spaßvögel, die Schlager und Popmusik kreieren, es gibt Künstler, die ‚ernste' Musik komponieren, es gibt allerlei geübte/inspirierte/begabte Musiker jede Spielart moderner und klassischer Musik. Und für jede Musik gibt es Leute, die sich diese ‚Musik' anhören. Manche schwören drauf.
Leichte Muse, schwere Kunst. Die Spielarten dessen, was Musik, hat vielfache Namen und hinter jedem Namen stehen Spezialisten, die den einen Grashalm vom anderen unterscheiden und die speziellen Attribute sofort erkennen und benennen können.
Neben aller klugen, progressiven, verrückten und sonstigen sowie Unterhaltungsmusik etablieren sich Nischenspezialitäten, die manchmal eher theoretischer oder philosophischer Art und trotzdem noch als Musik zu erkennen sind. Minimal Music etwa, Ambient, Techno, John Cage, Merzbow. Elektronik, Harsh Noise, Schlager - seltsam komisches Zeug und doch irgendwie Musik.
Diese vier Leute hier haben vier LP-Seitenlange Tracks eingespielt, die wohl so etwas wie Harsh Noise sind. Ist da Jazz drin? Mhm. Hier und da?!? Ist da Metal drin? Ähm!!! Rock ist drin: Schlagzeug. Elektronik ist drin: Merzbow. Auf alle Fälle ist sehr viel Krach drin. Denn das ist die Spezialität des edlen Quartetts.
Merzbow (aka Masami Akita), schon mal als renommierter Noisemaker bezeichnet, hat seit 1979 über 350 Aufnahmen gemacht. Nichts davon ist auch nur ansatzweise für unbefangenes Publikum gedacht. Seine Einflüsse starteten bei Jimi Hendrix, Lou Reed und Robert Fripp, wanderten über Albert Ayler, Cecil Taylor und Frank Wright zu Karlheinz Stockhausen und Iannis Xenakis. Die genannten Personen werden sich freuen, dass ein verrückter Japaner sich ihre Musik anhörte und in eigener Kreation Krach macht(e), den er Power Electronic oder White Noise nennt. "Ich wollte eine extreme Form der Musik erschaffen."
Mats Gustafsson (saxes, g, cl, power electronics) ist im Free Jazz zu Hause. Seine Wurzeln liegen im Punk, frühe Einflüsse: Little Richard, The Cramps, Entombed. In seiner Stadt gab es ("Ich hatte Glück") einen Jazzclub und eine aktive Musikszene, er hörte Steve Lacy, Sonny Rollins, Derek Bailey und Per Henrik Wallin und er spricht mit Evan Parker, wenn er von seinen Anfängen redet: "Meine musikalischen Wurzeln liegen in meinem Schallplattenspieler". Gustafsson ist Teil des Fire! Orchestra, von The Thing und arbeitet weltauf und -ab in zahllosen Projekten mit allerlei musikkranken Musikern zusammen.
Balázs Pándi (dr) ist der Rufer in der Wüste. Er holte die Band zusammen. Pándi stand schon mit Masami/Merzbow, mit Sonic Youth und allerhand Rock-, Jazz-, Metal- und Noise-Bands in Schuppen, auf Bühnen und in Studios. Die "wall of noise" (Gustafsson) nennt Pándi "mystery in sound".
Das Trio Merzbow/Gustafsson/Pándi spielte 2013 das krasse "Cuts" ein. Für den Nachfolger ludt das Trio einen bekennenden Noise-Fan ein, den Sonic Youth-Gründer Thurston Moore. Der Sonny Sharrock Jünger bewies auf den diversen SY-Alben sein Interesse an und Gespür für Tuning und Feedback, aktuell liegt sein Interesse eher im Jazz, auf seine Weise.
Wichtig ist dem zum Quartett gewachsenen ehemaligen Trio die Energie zwischen den Musikern. Die Chemie muss stimmen. Und der Raum, in dem die Aufnahmen erfolgen, ist Inspiration. Davon kann alles abhängen. Und der Raum war krass. "Darin gab es eine Skateboard-Rampe. Der Raum war spektakulär! Es war eine wirklich unglaubliche Aufnahme und ging ganz schnell: nur eine Wand aus Noise-Poesie mit sich kontinuierlich verändernden Ebenen und Perspektiven und dazu viel Farben, Ebenen, Energien und Sounds. Ein inspirierendes Miteinander" mein Mats Gustafsson.
Noise-Poesie trifft es ganz gut. Auf CD 1, 37:32 Minuten dauernd, sind die ersten beiden harschen Stücke zu hören, die kein Gran Energie zurücknehmen und eine gewaltige Wand aus Krach fabrizieren, die jeden auch geübten Zuhörer zu erschüttern weiß. Und obschon die Jungs hier nur spielen und Krach machen wie alle Jungs, die Spaß am Spielen haben und gern die Umwelt ärgern und in Schutt und Asche legen möchten, sind doch die Einzelteile erstaunlich gut zu erkennen. Nicht immer, aber oftmals. Thurston Moores Gitarre pflügt stets im Vordergrund, während Merzbow die Struktur der Songs durch und durch prägt. Gustafsson stets hier und da extremst an vorderster Linie und bratzt, das sein Instrument sterben möchte, während Pándi den ‚normalsten' Part hat und überwiegend mildernd wirkt, der Sache Struktur und Metrum gibt.
CD2, wieder zwei Tracks, 44:30 lang, beginnt mit, nun, doch, einer Art Ballade, einer Ambient Harsh Noise Ballade. Der Krach ist leise, zart fast. Und von großer Sensibilität. Gleichfalls aber Krach. "Cuts Deeper."
Zuletzt gibt es über 23 Minuten die atonale Bombe mit schweren Bässen, Kreissägen, Saxophongewittern und Feedback-Kreischen samt harmonisch donnerndem Schlagzeug. Wer vorher noch nicht genug hatte, der wird zuletzt hier erschlagen. Jeder Instrumentenbauer weint, und wer Verstärker und Studiotechnik baut, tut es ihm gleich. Und doch werden ein paar Musik kanalisierende Zuhörer da sein, die ‚interessant' denken und allem, was Musik sein kann, ein weiteres Denkkästchen hinzudenken.
Schon heute gehen Großmütter auf Metallica-Konzerte, bald gehen Urgroßmütter zu Merzbow-Auftritten. Kinder werden im Kindergarten Krach hören, in Supermärkten sägen Bands wie diese und die Welt sehnt sich danach, alle Musiker der Welt loszuwerden. Und eines Tages ist sie aller Musiker ledig. Es gibt niemanden mehr, der Musik macht. Es gibt niemanden mehr, der Musik hört. Und es wird ein Kind geboren und die stumme Welt bewundert es. Eines Tages, die erschütterte Welt muss es zermürbt wahrnehmen, beginnt das Kind: zu summen - - -
Und eine neue Musik entsteht, deren forschende Entwicklung unabsehbar ist.
rarenoiserecords.com
VM
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