Circulasione Totale Orchestra "Bandwidth" (rune grammofon, VÖ: 22.01.2010)

Ich möchte jetzt hier vom der 3CD beiliegenden Presseblatt abschreiben, weil dessen Worte knapp und treffend beschreiben, was es mit dem Album des Circulasione Totale Orchestras auf sich hat:
Der Titel ("Bandbreite") des monumentalen 3CD Sets findet seine Entsprechung auf verschiedenen Ebenen. Zwischen dem jüngsten und dem ältesten Musiker liegen fast 50 Jahre, die Musiker des Orchesters kommen von drei Kontinenten und sie decken einen breiten Rahmen musikalischer Ideen, Vorstellungen und Stile in ihrer schier unglaublichen Vereinigung akustischer, elektrischer und elektronischer Instrumente ab: Free Jazz, Avant Jazz, Electro Avantgarde, Metal, Noise, Free Improvisation - vereint auf der Basis Freier Improvisation.
Das Circulasione Totale Orchestra, der Name sagt es bereits, gibt es seit 1984 in diversen Besetzungen, seit einigen Jahren in ganz neuer Aufstellung. Bandleader Frode Gjerstad (sax, cl) hatte sein Orchester komplett umstrukturiert, viele junge Musiker ins Ensemble geholt, um neue, stilistisch nicht starre, nicht festgelegte Wege zu gehen und klangtechnische Vereinigungen zu finden, die so noch nicht gefunden worden sind. So kommen neben typischen Jazz- und Rockinstrumenten wie Saxophon, Klarinette, Schlagzeug, elektrischer Gitarre, akustischem Bass, Tuba, Trompete und elektrischem Bass auch Vibraphon und Electronics zu Einsatz, deren Handwerker aus verschiedenen Inspirationssphären kommen, die unterschiedliche musikalische Vorstellungen und Ideen haben, sich aber auf das große Konzept einlassen und gemeinsam zu intensiver und radikaler klangharmonischer Vereinigung finden, die weit über harmonische, melodische oder tonale Wege hinausführt, auf avantgardistische Weise neue Klangflächen anstrebt und Spiellust, ja Spielwut erzeugen, aus der Energie, Inspiration und gemeinsames Interplay fließen.
Es gibt bereits 5 Alben der Band, das letzte, "Open Port", aus dem Jahr 2008, wurde in Norwegen als die beste Jazzplatte des Jahres ausgezeichnet.
Die drei CDs enthalten ausgedehnt lange Tracks, keine Songs im herkömmlichen Sinne, eher abstrakte Kunstwerke, die gewachsene Jazzästhetik auf freie, improvisative Weise im großen Ensemble und dichte Klangbreite in neue Ideen/Möglichkeiten/Freiheiten katapultiert. Der Jazz ist europäisch, hat unterschwellige harte Rockanteile, was sich in einigen geradezu metallischen Gitarrensoli offenbart wie im rhythmischen Spiel. Die Tracks beweisen das Gespür ihrer Interpreten für hinreißende Soli, vor allem aber die pure Lust aller Involvierten, sich gemeinsam ohne Rücksicht auf Verluste oder Lautstärke nach Herzenslust auszutoben. Erstaunlich, wie organisch die Improvisationen sich in Soli auflösen, wie tief melancholische Flächen auf brüllend laute Krachorgien folgen, wie aus einem virtuosen Bläsermotiv das gesamte Orchester zu rasanter, kakophonischer Opulenz auffährt.
Die drei Alben sind kaum nachvollziehbar zu beschreiben. Es passiert so ungemein viel, so Unterschiedliches, kein Stück gleicht dem anderen, und in allem ist der Gemeinklang stets so verblüffend ausgewogen, wächst in allen Beteiligten die gleiche Energie für die vielschichtige Zusammenarbeit, dass die virtuose Erregung zu echtem Orchesterspiel wird, das im Song vereint größeres schafft, als die Addition der einzelnen Mitarbeiter.
"Bandwidth" fordert Aufmerksamkeit. Es braucht viel Zeit, die Musik zu begreifen, sie nachvollziehen zu wollen und können. Und es erfordert Nerven, Hingabe, Neugierde, offene Ohren, und geneigte Mitbewohner. Wer Lust auf virtuose, reiche Musik hat, die sich nicht auf popmusikalische Leichtigkeit beschränkt, sondern mit viel Instrument, Gepäck und Personal zur Expedition aufmacht, wird reich belohnt.
Ein Meisterwerk? Ein meisterhaftes Werk. Mit vielen erschreckenden, bewegenden Facetten. Mit energischer Lautstärke und avantgardistischer Schräglage, mit enormem Krachpegel, mit verwuseltem Spiel. Doch wer diese Klänge begreift oder sie nur nachzuvollziehen versucht, der wird mittendrin entdecken, das dies kein "schrecklicher Krach" ist, sondern lebendige Musik, die einfach nur wunderbar ist.

frodegjerstad.com
runegrammofon.com
VM





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