Jorge Campos "la ausencia de lo sagrado" "Machi" (El Templo Rekords 2000/04)

Chile ist aus Sicht des Progressive Rock die Ausnahme unter den südamerikanischen Staaten. Das Land war viele Jahre lang politisch in Geiselhaft der Diktatur Pinochets, der sich im September 1973 an die Macht geputscht hatte. Bis heute ist unbekannt, wie viele Opfer der Putsch kostete, Folter und Mord waren Bestandteil der Unterdrückung, so wurde der populäre Sänger Victor Jara bereits im September 1973 ermordet. Zwar weichte die Diktatur im Laufe der Jahre auf und bekam nach und nach liberalere, pseudodemokratische Züge, was die Bevölkerung bis heute in Fürsprecher und Widerständler der Landespolitik teilt. Viele Künstler bezogen Inspiration aus innerem Widerstand gegen die Diktatur und den Geheimdienst Pinochets. Die nicht nur in Chile populären Jazzrocker Fulano, denen Jorge Campos von Anfang bis Ende angehörte und die fünf CDs von 1993 bis 2002 veröffentlichten, verstanden sich als Opposition zur Diktatur und ihren Folgen. Fulano gibt es nicht mehr. Keyboarder und Gründungsmitglied Jaime Vivanco verstarb, die Band war nicht mehr vollständig, die verbliebenen Mitglieder wollten Vivanco nicht ersetzen und zur Tagesordnung übergehen. Cristián Crisosto und Arlette Jequier gründeten Mediabanda und führen in der Band mit jungen Musikern die Linie Fulanos fort. (Ebenso gehörte Jorge Campos lange Zeit der Progressive Rock Band Congreso an.)
Jorge Campos arbeitet unter eigenem Namen mit wechselnden Musikern zusammen, darunter sind auch schon einmal seine alten Bandkollegen. Seine Musik hat zwar Parallelen zu Fulano, ist jedoch nicht ganz so konkret dem Jazzrock verschrieben. Wie bei Fulano sind bei Jorge Campos starke folkloristische Einflüsse auszumachen. Campos spielt Bass, ist ein begabter und geübter Virtuose, der komplexe und aufwändige Kompositionen energisch zu intonieren weiß, dass es klingt, als sei es federleicht gewesen, "Mapocho", "Octaton" oder "Amor En Stell@r (Hot Copilot)" einzuspielen.
"Machi" ist, wie es auf dem Cover steht, ein Bass Solo Album, jedoch hat Campos drei Begleitmusiker, die allerhand Perkussion, Cello und Schlagzeug spielen. "Machi" ist das technischere der beiden Alben, bereits 1999 und 2000 eingespielt, als Fulano noch Konzerte gab, ist die Prägung der Band sehr stark. Alle Stücke sind rhythmusgeprägt, klingen knackig; obschon nicht in jedem Fall groovig, klingen seine Songs doch eingängig und überraschend melodisch. Poppige Beats in einigen Songs machen doch keine Popsongs draus, zu eigen, jazzbetont, und ja, "progressiv", sind die Strukturen. "Machi" ist ein außergewöhnlich gutes Album, sehr inspiriert, das Bassspiel ist grandios, die Soli mit dem südamerikanisch-chilenischen Folklore-"Slang" hinreißend und kein Stück altbekannt oder tausendfach gehört.
In den 14 Stücken auf "la ausencia de lo sagrado" wurde Jorge Campos von diversen Musikern begleitet, die neben Gitarre, Keyboards und Schlagzeug Fagott, Flöte, Violine, allerlei Perkussion, so tibetanische Gongs und allerhand exotische Instrumente wie Djembe, Chekere, Sonajas, Nai, Zurdo und Bombo spielen. Auch hier steht der Bass oft im Vordergrund, gibt es grandiose Soli zu hören, wie in "Doimo", wo Jorge Kontrabass und elektrischen Bass nebeneinander spielt und das Solo des elektrischen Basses über der Spur des Kontrabasses in melodischer wie in virtuose Sicht schlicht überwältigend ist. Doch die weiteren Melodieinstrumente haben ebenso viel Raum; Trompeten, elektrische Gitarren, Piano und Violine führen die vielschichtigen Songs durch ihre höllisch komplexen Geflechte. Eigenwillige, schräge Beats und poppiger Rhythmus wechseln sich mit Bombastschlagzeug und hartem Heavy-Jazz-Rhythmus ab, ergänzen sich in einigen Songs und lassen so harmonische Wechsel und Brüche in den Stücken kräftiger und farbenfroher erscheinen. "Siempre Pensé" und "Mariana" sind melancholische Stücke, deren Gesang tief folkloristisch klingt. Ohne ein Wort des gesungenen Textes von "Siempre Pensé" zu verstehen, ist die Stimmung der Stücke offenbar anklagend, zeigt Stärke und Mut. "Mariana" ist ein zartes Liebeslied, dessen schlichte Gesangsharmonie von klassisch anmutendem Melodiereichtum im Spiel des Fagotts und der Flöte begleitet wird. In "Yo Creí" lässt Campos über einem hektisch-nervösen Rhythmuskonstrukt ein aufgeregtes, entrücktes Cellosolo laufen, nachdem die ersten beiden Minuten des Stückes wie verweht-melancholisch in den Raum schwebten. Über das Album verteilt sind die Teile des Titeltracks zu hören, die zwischen forscher, aufregender Vitalität und harmonischer Lyrik weite Emotionen ausfüllen.
Die wenigen Vokalstücke sind schlicht und eingängig, deren Instrumentalparts und die Instrumentalstücke hingegen sind komplex und anspruchsvoll. Dennoch wird Jorge Campos es schwerer als Fulano haben, Erfolg zu finden. Seine Musik ist nicht unbedingt Jazzrock, was die Fans dieser Richtung wohl leider abhalten wird, sich damit zu beschäftigen. Campos sitzt zwischen allen Stühlen; Progressive Rock, Jazzrock, Folklore und Liedhaftes teilen sich die CD. Dennoch seien beide Alben vor allem Jazzrock-Freaks ans Herz gelegt, viele ausgeflippte und grandiose, perfekt gespielte, lebhafte Stücke gibt es auf beiden Alben zu hören.

eltemplo.cl
VM



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