Boris Savoldelli "Biocosmopolitan" (Moonjune Records 2011)

Vokalakrobat Boris Savoldelli mixt auf seinem neuen Album "Biocosmopolitan" quer durch alle Stile und tut gut daran. Gewiss ist ein reines, oder fast reines Vokalalbum kein "echtes" Rock- oder Jazzwerk, hat seine Extraposition und die will und muss es haben. Jazz ist es besonders dann, wenn Gäste aktiv werden. Im Titeltrack ist dies Jimmy Haslip, der grandiose Jazz-Bass-Arbeit beiträgt, im eher poporientierten, in sich verschlungenen Titeltrack geht eine schöne Sperre auf. Die beiden Songs mit Trompeter Paolo Fresu machen entfernt an Miles Davis denken. Zu allererst machen die frech-frischen Popsongs mit vielfacher Vokalschichtung ungemein gute Laune. Doo-Wop trifft auf Freddie Mercury-mäßigen Textgesang, polyphone Rhythm'n'Blues- (also nicht was heute so unter R'n'B läuft) Stimmberge bekriegen sich mit Scat-Gesang und allerart zirkusreife Verrücktheiten, schmachtende Boris-Chöre schmelzen in schimmernden Harmonien schicke Rock-Roots auf, über die schleckrige Italo-Coolness schlackert, von schwummerig treffsicheren Pop-Vokalismen begleitet. Alles geht, hat es den Anschein.
Boris Savoldelli hat Idee. Und Witz. Er behält den Überblick, wo schon der Hörer meint, im Stimmenmeer weg zu schwimmen. Immer wieder gibt es Grund, Fuß zu fassen und dem fließenden Strom gewachsen zu sein. Und dann sind da plötzliche Disharmonien, die den Fußnägeln das Aufrollen befehlen wollen. Gewollt, gemacht, getroffen. Und den Hörer wieder an seine Aufmerksamkeit bindend. Die Ideen sind straff organisiert, die Songs zwischen anderthalb und viereinhalb Minuten lang, überwiegend unter drei. Es passieren viele unsagbare und für offene Ohren erfahrbare Überraschungen, eingebettet in Doo-Wop und Jazz sowie Pop im 80s Vokalkleid mit 60s-Patina.
Schönster Song? Mhm! Nicht die avantgardistische Verneigung vor Jimi Hendrix, die einfach göttlich, aber etwas unnahbar ist, göttlich halt. Jeder Song hat seine Extravaganz, seinen Glanz, seine Phonographer-Sounds und neben jeden Mainstream weisenden Wahnsinn.
Am eingängigsten ist vielleicht "Lovecity". Was zum Namen passt. Und gar Hitpotential im Freddie-Mercury-Queen-Style aufbretzelt.
Wer danach noch nicht zugequatscht ist, zuhören kann, kann sich dicker Nerven erfreuen. Die Platte macht Laune, fordert aber auch. Zwar bleibt Boris Savoldelli zu 99% im eingängigen Bereich und fegt die Straße, die er bewohnt. Doch nach knapp 50 Minuten Gesangswahnsinn sind die Gehörgänge ausgeleiert, wünscht der Hörsinn Instrumentales. Oder Stummes.

borisinger.eu
VM




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