Barclay James Harvest "Live" (Polydor 1974, Esoteric Records, VÖ: 27.04.2009)
Barclay James Harvest "Live Tapes" (Universal Music/Esoteric Recordings, VÖ: 27.04.2009)

1973 war Barclay James Harvest der Vertrag mit dem Harvest Label gekündigt worden. Das war erstmal ein Schock für die Band. John Lees (g, rec, voc), Les Holroyd (b, g, voc), Stuart "Woolly" Wolstenholme (mel, p, moog, voc) und Mel Pritchard (dr) erwogen im ersten Moment gar, die Band aufzulösen. Dann wäre Barclay James Harvest als progressive Symphonic Rock Band in die Geschichte eingegangen, und nicht, wie sie heute zumeist wahrgenommen wird, als Popband mit dem Hang zu Keyboardschmalz und etwas zu leichtgewichtigen Songs, wohin sie sich in den 80ern entwickelte.
In den Jahren zuvor hatten Barclay James Harvest jedoch einiges Geld verdient, konnten erst einmal überleben und so sahen sie sich selbstbewusst nach einem neuen Labelpartner um. Polydor griff zu und bekam von EMI (dem Mutterlabel von Harvest Records) die Erlaubnis, Livematerial zu veröffentlichen. Gerade live galten BJH als echte Erfüllung. Polydor schickte die Band mir Rare Bird auf Tour, einer anderen Symphonic Attraktion des Labels. Damals funktionierten solche Sachen. Gerade die symphonischen Bands waren up to date und fanden ein großes Publikum, heute unvorstellbar. Die Aufnahmen für die beiden LPs, die 11 Songs sind jetzt remastert auf einer CD (ca. 75 Minuten) vereint, wurden am 30. Juni im Theatre Royal Drury Lane, London und am 31. August 1974 im The Liverpool Stadium aufgezeichnet.
Die CD eröffnet mit 2 Klassikern: "Summer Soldier" und "Medicine Man", kommt zu neuerem Material wie "The Great 1974 Mining Disaster", spielt akustisch-folkloristisches Material wie "Galadriel" und das eindrückliche "For No One". Alles tolle Songs, bis zum abschließenden Klassiker "Mockingbird", der trotz seiner Länge von 8 Minuten damals sehr populär war.
Die Aufnahmen sind im 24 Bit Verfahren remastert worden, der klassische symphonische Sound leider darunter nicht. Und so ist in aller symphonischen Dichte noch immer die Magie und das etwas mystische Moment zu vernehmen, das die LP offenbarte. Das Ganze klingt versponnen und verwunschen, der Klang der Songs bleibt auf der CD authentisch, nur die dicke Last des etwas schwül gemixten originalen Konzertes wurde aufgefrischt.
Die LP verkaufte sich sehr gut und ist ein Dauerbrenner bei Symphonic Fans gewesen. Bis heute hat die Musik von ihrer Kraft nichts verloren, wenn der musikalische Zeitgeist auch weiter gezogen ist. Die Kompositionen bringen es. Überwiegend schwer symphonisch, eingedeckt in den vollen, dicken Sound des Mellotrons, angefeuert von dem kraftvollen Schlagzeug, den kratzig harten Tönen der elektrischen Gitarre und dem Rückgrat, dem elektrischen Bass, der hier ganz besonders markante Linien fährt, spielen BJH melancholische Meisterwerke; lyrische Stücke, die heftig ausbrechen können oder zarte Folknummern mit versponnenen Texten. Die CD ist ein typisches Werk der 70er Jahre. So verschnörkelt und komplex, aufwändig und keyboardlastig war keine Szene je zuvor und danach wieder.
Das Booklet präsentiert die Story der Band zu dieser Platte, die Lyrics, technische Informationen und Bilder. Fabelhaftes Reissue, toll und würdig gemacht und allen Symphonic Fans zu empfehlen.

1976/77 hatte sich die Rockmusik entscheidend verändert. Komplexität und Kunst standen nicht mehr im Vordergrund. Die progressive Szene baute ab. Die Songs wurden kürzer, schlichter, geradliniger, schnörkelloser. Barclay James Harvest machten da keine Ausnahme. Was sie mit ihrem Platinum Album "Gone to Earth" bewiesen. Einige Konzerte der sich anschließenden Tour wurden aufgezeichnet, um in den USA ein Live-Album anzubieten. Eine EP wurde veröffentlicht, das Livealbum verschoben. Schließlich wurde eine konkrete Songauswahl getroffen und dem Baby ein Name gegeben: das Album sollte "Caught Live" heißen. Jedoch hatten Moody Blues gerade ein Album draußen, das diesen Namen trug. BJH, die schon mal als Moody Blues für Arme bezeichnet worden waren und darauf humorvoll mit dem Song "Poor Man's Moody Blues" antworteten, gaben den Namen auf und betitelten die Aufnahmen schließlich schlicht als "Live Tapes". Einige Konzerte wurden zudem gefilmt und als Dokumentation im belgischen und Schweizer Fernsehen gezeigt, kamen ins deutsche und britische Kino. Der Film behielt den Namen "Caught Live".
Esoteric Recordings legt das Album mit Bonustracks jetzt neu auf, nachdem es vom Vorgängerlabel Eclectic Discs - das es nicht mehr gibt und unter dessen Webseite nun Hardcore Pornographie zu finden ist, ich schaffe es gewiss nicht, alle Links dahin zu löschen - 2006 mit Bonustracks digital remastert veröffentlicht worden war, die Rechte sind auf Esoteric übergegangen. Im schön gestalteten, ausführlichen Booklet ist die umwegreiche Story der Band und der Platte nachzulesen.
BJH waren weitaus straighter unterwegs als drei Jahre zuvor. Die Songs waren leichter, schlichter, der Sound blecherner, dünner. Aus dem bandtypischen Stil, der Klassik und Rock anspruchsvoll mixte, war eingängiger Melodic Rock geworden, der als Breitbandunterhaltung gut ankam. Die Band blieb am Ball. Die immer weiter führende Vereinfachung ihrer Songs und Alben in den kommenden Jahren trieb die Band auseinander. Keyboarder Woolly Wolstenholme stieg aus, bevor BJH mit eingängigen Popsongs die große Kohle machten und gründete sein Solounternehmen Maestoso, das dem anspruchsvollen Genre überwiegend erhalten blieb.

bjharvest.co.uk
esotericrecordings.com
VM



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