Apple Pie "Crossroad" (Mals 2007)

Apple Pie ist eine Band aus dem russischen Kursk, die dort als Geheimtipp in der Progressive Rock Szene gilt. Das wie Apple Pie relativ junge russische Progressive Rock Label Mals hat die Band unter Vertrag genommen und das erste Album "Crossroads" in der ersten Jahreshälfte 2007 veröffentlicht. Aleksey Bildin (b, sax, voc), der zugleich in der ebenfalls russischen Band Little Tragedies spielt, Vartan Mkhitaryan (g, lead-voc), Oleg Sergeev (key, voc) und Andrey Golodukhin (dr) scheinen einem ihrer Vorbilder ganz besonders und genau zugehört zu haben: Spocks Beard. Schon auf der Webseite des Labels Mals wird darauf hingewiesen, nicht ohne Hoffnung, damit das Interesse der weltweiten Prog-Gemeinde auf Apple Pie und "Crossroads" zu lenken.
Im Gegensatz zu Little Tragedies, die russisch singen und just zur selben Zeit eine neue CD veröffentlichen, singen Apple Pie in englischer Sprache. Es gibt keine furchtbare Akzent-Hürde, sicher ist das Englische nicht ganz rein, meins wäre jedoch viel schlimmer. Nein, der Gesang geht in Sachen Sprache ebenso in Ordnung wie in Sachen Intonation. Die Gesangslinien, ebenso von Spocks Beard inspiriert wie die instrumentale, erheblich komplexe Ausarbeitung der langen Tracks, sind noch das Liedhafteste der Songs. Wer will, kann bald mitsingen, im Booklet stehen die Texte dazu.
Apple Pie folgen ihrem Vorbild, genau genommen dessen Frühphase, als da die Komplexe noch lebhaft über- und durcheinander purzelten und die Lebendigkeit der virtuosen Musik von schier endloser Spannung war. Der erste Track "The Beginning" beginnt tückisch: schier glaubt man, keiner Progcombo zu lauschen, weil der liebliche Gesang und die zarte Struktur eher Pop als Rock sind (was später in einigen Gesangsarrangements wiederkehrt). Doch nach den Strophen entflechtet die Band ihre Ideen und rasselt bis zum Ende schwer komplex und mitreißend los. Das ist erstklassig und wird gewiss auch skeptische Fans einnehmen.
Derlei druckvolles, komplexes Instrumentalgut kommt in quasi jedem Track wieder, nur in balladesken Stücken und Parts geht es liedhafter und sanfter zu. Teilweise sind die komplexen Parts fast Prog Metal, anderes, so in den beiden letzten Longtracks, bekommt der Symphonic Prog instrumentalen Jazzrock/Fusion ins Getriebe, auf dass die Minuten abwechslungsreich und vielseitig gestaltet sind. Die 10 Songs machen zusammen 76 Minuten voll. Nichts darin klingt hölzern oder steif, selbst die poetischen Texte, die von Selbstwerdung, Erwachsenwerden, Bewusstsein, Einsamkeit und Liebe handeln, sind wohl gewählt. Die Einspielung ist sehr dynamisch und virtuos, die Band rockt in ihren langen instrumentalen Komplexpassagen erfreulich hart und dennoch sehr melodisch. Gitarre und Keyboards haben den meisten Raum, solistisch zu arbeiten. Das Gros der gebirgigen Landschaft baut die Band jedoch gemeinsam aus, so dass alle Beteiligten viele vertrackte Noten zu spielen haben. Wenn Soli, dann jedoch vitale, selbst der Bassmann feuert (ein etwas Funk-durchzogenes) Solo ab. Die mordsstürmischen Soli von Synthesizer und Gitarre tun den grauen Zellen gut und jagen enervierende, also therapeutische Blitze durch alle Nervenverbindungen - und der Hörer lächelt. Manchmal gehen die Soli so schnell zuende, dass der Kopf plötzlich aus dem Sturm der Betäubung erwacht und mitbekommt, dass nach der wunderbaren Fülle (etwa "Crossroads") schon die melancholische Popballade läuft ("Nothing"), die sich instrumental ebenfalls über jeden Zweifel erhaben zeigt.
Gibt es nix zu meckern? Nun, doch, gewiss. Die balladeske Zartheit einiger Tracks ist etwas sehr schwülstig, gerade, wenn dann das Saxophon zu einem Solo ansetzt, das kein Mensch ohne Androhung von Gewalt hören will, oder aber die manchmal etwas sehr seichten Gesänge.
Aber davon sollte sich niemand abschrecken lassen. Es gibt hier so viel Gutes zu entdecken, etwa gleich nach dem kurzen "Nothing" folgt der Rocker "Temptation" mit brassigen Bläsersätzen, und nicht nur hier gibt es wohl integrierte gesangliche Einflüsse aus Soul und Funk mit Damenchor. Apple Pie ist eine begabte Band, deren Musiker technisch versiert keine Probleme haben, ihren Instrumenten alle gewünschten vertrackten Töne auf eigene Weise zu entlocken. "Crossroads" ist ein sehr gutes Debütalbum, mit einer großen Fülle an Ideen. Und vor allem, trotz der (wenigen) seichten Dinge, ist es ein herzhaftes, empfehlenswertes Progressive Rock Album. Braucht keiner Angst zu haben, wenn es heißt, die Russen kommen. Die kann man sogar ins Wohnzimmer lassen, wo der entspannende Wohnzimmersessel wartet, sich darauf hinzufläzen und die Musik wohltemperiert und laut in die Ohren und Sinne zu jagen. Mit Blick auf die Scheune.
Zu beziehen sind die CDs des Mals-Labels über Kinesis, Musea, Record Heaven - den bekannten Prog-Versandhäusern.

mals.ru
VM



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