Aisles "In Sudden Walks" (Presagio 2009)

Nach "The Yearning" (2005) ist "In Sudden Walks" das zweite Album der chilenischen Progressive Rockband Aisles. Alejandro Meléndez (key, voc), Rodrigo Sepúlveda (g, voc), Germán Vergara (g, voc), Felipe González (b), Luis Vergara (key), Sebastián Vergara (lead voc, back voc, fl) und Felipe Candia (dr, perc) haben einen eigenen Stil entwickelt, der Symphonic Rock mit südamerikanischem Machismo, Jazz-Fusion, Neoprog, Folk, einer Prise ProgMetal und Latin auf hinreißende Weise miteinander verbindet.
Opener "Mariachi", nicht 9:59, wie auf dem Backcover angegeben, sondern 10:02 Minuten lang, Longtrack-Fans können sich freuen, das Stück ist gerettet!, mischt gleich alles. Folkloristisch-jazziges Trompeten-Solo, Latin-Perkussion, ProgMetal-Gitarren-Partien, Symphonic Arrangements mit Neoprog-Einfluss und Machotext, alles dran, und sehr schön und kurzweilig aufgebaut. Toller Opener, dem noch mancher nette Track folgt.
Doch zuerst einmal kommt mit "Revolution of Light" ein neoprogressiver Popsong mit schönem Instrumentalpart. Was gesangstechnisch abgeht, passt ins Melodic Rock Radio und freut diejenigen Rockfans, die es nicht exaltiert und ausgeflippt brauchen, wobei die im instrumentalen Bereich wieder ordentlich ran genommen werden. Ist zu ertragen, mehr als das, ein paar Mal angehört, verliert sich das schlagerhaft Nachteilige im enorm flott und saftig aufgebauten Arrangement. Zudem ist der Song kurz und damit schnell wieder vorbei. "Summer Fall" und "The Maiden", beide kurz unter 10 Minuten lang, warten nicht mit Macho-Lyrics auf und sind auch nicht so rasant und eklektisch aufgebaut, wie der mitreißende Opener, präsentieren sich trotzdem sehr gut, haben tolle Kompositionen, leise Melancholien, deftige Emotionen, witzige Ideen hier und da, lockeres, dabei enorm komplexes Rhythmusgefüge, das trotz aller Aufwendigkeit und Differenziertheit eingängig ist, typisch südamerikanisch, vital, energisch, lebhaft und hochemotional.
Akustische und elektrische Parts wechseln sich ab, was allein die Gitarristen leisten, ist allerfeinstens, und in aller vertrackten Kunstsprache von erstaunlicher Eingängigkeit. Gitarrensoli, auffahrender Keyboardbombast, druckvoller Rhythmus und die ganze Breitseite liedhaften Gesanges von harter Schnelligkeit bis zu schmelzender (und damit fast schon wieder zu viel des Guten) Emotionalität - in den Songs steckt viel Abwechslung. Da wechselt sich ein poppiger Part gegen ein crimsoneskes Motiv ein, das jazzig ausgeführt wird und bald neoprogressiver Lyrik weicht. Dabei bleiben die Songs nachvollziehbar und selbst in den eher sperrigen Partien locker und emotional erregend.
"Smile of Tears", mit glatten 4:00 Minuten der zweite kurze Track, scheint von den instrumentalen Elektrosongs von Depeche Mode inspiriert zu sein. Die Pseudoballade mixt Electropop mit Progressive-Rock-typischen symphonischen Arrangements.
Zuletzt folgt das große Kunstwerk. Das erstaunlich düstere "Hawaii" ist 15 Minuten lang und holt erneut alle illuster vitalen Merkmale der begabten Band hervor. Große Eingängigkeit und heftige Rockkomplexe mixen sich emotional ausgelassen, lebensfrohe Energie fließt in tief dunkle Melancholie, nachdenkliche Liedhaftigkeit geht in dramatischen Partien auf, Latin-Jazzrock trifft auf heavy Prog mit Folkcharakter im perkussiven Rhythmusgeschehen.
In Europa sind Bands dieser Progressive Rock Spielart kaum zu finden, es sei denn in südlichen Gefilden, wo nicht der kalte Frost an düsteren Musikerseelen nagt. Südamerika bringt immer wieder einmal Bands mit dem großen emotionalen Faktor hervor, die Liedhaftes mit Anspruchsvollem auf hohem Niveau kreuzen und damit einzigartig sind. Im kühlen Deutschland wird wohl die direkte Offenheit und lebensfrohe Gefühlsbetontheit irritieren oder mitreißen, ganz nach Schmackes.

myspace.com/aislesproject
VM



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