Aera "Mechelwind" (Long Hair Music 2009)

Meinen ersten Kontakt zu Aera hatte ich in einem hamburgischen Second Hand Plattenladen. Ich fragte nach den Italienern Area und der Inhaber wühlte "Hand und Fuss" heraus. Ich war glücklich und kaufte die Platte blind. Wie groß meine - zuerst wütende - Enttäuschung war, nun, solcherlei hat ein Jeder (wie eine Jede) wohl einmal erlebt, könnt ihr euch denken. Die LP stammte nicht von den grandiosen Jazzrock-Italienern (mit griechischem Sänger Demetrios Stratos, R.i.P.), sondern von einer falsch geschriebenen Band!
Machte aber nix. Die spielten auch Jazzrock. Allerdings von anderer Baustelle.
Aera wurde 1972 gegründet. Muck Groh (g) kam von ‚Ihre Kinder', Steve Robinson [alias Rainer Geyer] (key) von 2066 & Then, ebenso wie Davy Crockett (b) und Martin Roscoe (dr), Klaus Peter Schweizer von Prof. Wolfff. In dieser Besetzung ging die Combo, die sich just "Name" betitelte, mit Wind (die 1971 und 1972 je ein Album aufnahmen) auf Tournee. Im Booklet zur 2CD ist die Story der Bandgründung und ihrer ersten Jahre interessant geschrieben zu lesen.
Personelle Wechsel ließen die Band reifen, schließlich gehörten 1973, als die Aufnahmen beider CDs eingespielt worden sind, neben Groh und Robinson Klaus Kreuzeder (sax, fl), Peter Malinowski (b), Paolo Grobben (b) und Dieter Bauer (b) - die drei Letztgenannten im Wechsel - und Sidhatta Gautama Schwitzki (dr) zur Band.
Die erste LP der Band, "Humanum Est", wurde 1974 veröffentlicht. Sämtliche Aufnahmen auf der vorliegenden Produktion sind vordem eingespielt und aufgenommen worden und in dieser Form auf keinem der originalen Bandalben enthalten, nicht in dieser Form.
Aera spielten, eigenem Bekennen nach, damals improvisativ. Ihre Eigenkompositionen wurden in langen Sessions mit ausgedehnten Solopassagen sehr lang, was beide CDs demonstrieren.
Den Auftakt macht auf CD1 die fünfteilige "Mechelwind-Suite" über 25 Minuten lang. "Mechelwind" selbst folgt in zwei verschiedenen Versionen auf der Produktion, das in der ‚Suite' enthaltene "Hodibbel" ebenso. Mechelwind war die örtliche Basis der Band, darum der Titel. Aus ‚Name' wurde Aera, die Band experimentierte mit Rhythm'n'Blues, komplexem Rock und Jazz.
Die "Mechelwind-Suite" beweist schon einmal das handwerkliche Talent der involvierten Musiker, und ihr inspiratives Gespür. Das Werk ist facettenreich, hat sehr unterschiedliche Energieflüsse, ist partiell melancholisch still, hat tiefe düstere Motive, prescht energisch voran, rockt heftig, hat intensive jazzige Passagen und symphonische Flächen (Mellotron!), wohl jedes Instrument hat ausgiebig Platz für Soli. Die 5 Parts sind einzeln anwählbar und so wird der aufmerksame Hörer, als er "Hodibbel" im Anschluss wahrnimmt, verblüfft noch einmal die ersten Tracks anspielen. Der Song ist bereits Teil des großen Werkes, diese zweite Version jedoch hat ihre eigene Energie. Das forsche Motiv wird in ausgedehnten Jazz- und Rockimprovisationen inklusive Sax-, Orgel-, Mellotron- und Gitarrensoli genüsslich auseinander genommen. "Mechelwind" schließt die erste CD (44 Minuten) ab. In den weit über 10 Minuten gibt es freejazzige Aufregung, dynamischen Rock und dieses elegische Thema, das geradezu einlädt, sich in Soli und Improvisationen zu ergehen.
Während die Tracks auf CD1 zwischen Sommer und Oktober 1973 im Studio aufgenommen worden sind (und einen exzellenten Klang haben [welcher auf CD2 wenig nur nachlässt]), sind die 4 Tracks auf CD2 (41 Minuten) am 23.12.1973 in der Erlangener Stadthalle live aufgezeichnet worden.
Ein ganz anderes "Mechelwind" als auf CD1 eröffnet den vitalen Reigen. Wieder sind ausgedehnte Solopartien und improvisative Bandinterplays die Hauptsache des Bandinteresses. "Hodibbel" ist gar über 15 Minuten lang, Aera konnten sich nicht stoppen, haben sich in andere Sphären gespielt, das Publikum liebte es, scheint aber von den Intensität und Komplexität der Musik geplättet. "Papa Doing" macht nichts leichter. Aera haben auf diesen beiden CDs zwar nicht viele Kompositionen, ihre Stärke auf "Mechelwind" sind Experimentierfreude und die vollkommene intensive Hingabe an diesen neuen Sound: Jazzrock, dem sie in langer Instrumentalarbeit tief nachspüren. Genau der Stoff, der in den Achtzigern gern gehasst wurde, dem Popjahrzehnt, als lange Haare, lange Songs und komplexe Musik verpönt waren (jo mei…). Und auch das mit 6 Minuten eher kurze "Klaus With The Birds" ist verinnerlichter Sound, wenn die windige Nummer mir persönlich auch eher nicht zusagt. Der Rhythmusbereich ist mir zu statisch, das Saxophon zu einsam, der Wind zu windig. Und auch, als der Song sich aus seinem verwehten Beginn schließlich entwickelt und reich aufgefasert groovige Struktur aufbaut, bleibt er mir zu light.
Deutlich energischer als auf ihren späteren Alben, lockerer, verspielter, jazziger, experimentierfreudiger geht die junge Band hier vor. Die Handwerker beweisen, mit ihren Instrumenten umzugehen, zudem intuitives Gespür für jazzige Improvisationen und kraftvolle Soli. Wo kam das alles nur her?
Der exzellente Sound der ersten und der gute der zweiten CDs gibt der Aufzeichnung die perfekte Basis. Freunde und Süchtige des Frühsiebziger, wenn man heute so will: Progressive Jazzrock werden ihre Freude an "Mechelwind" haben.

longhairmusic.de
VM





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